Julia Bösch gründete Outfittery und stattet Männer online mit passender Mode aus, Christian Ahlert führt das 1920 gegründete Modehaus Ahlert in Greven. Was unterscheidet die beiden Geschäfte? Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Was können sie voneinander lernen? Ein Gespräch

Frau Bösch, welches Bedürfnis stillen Sie mit Outfittery?

Bösch: Viele Männer sind vom riesigen Angebot der Onlineshops überfordert – wo sie doch nur wissen wollen, welche fünf Hemden perfekt zu ihrem Körpertyp und ihrem Budget passen. Wer sich bei Outfittery anmeldet, bekommt deshalb einen persönlichen Stylisten an die Hand, der ihn telefonisch, per Chat oder anhand eines Fragebogens berät.

Und dann verschicken Sie eine Auswahl an Kleidungsstücken.

Bösch: Dann geht ein Paket zum Kunden, seine Wohnung wird zur Umkleide. Der Kunde bezahlt, was er behält, der Rest geht an uns zurück.

Herr Ahlert, Sie stiegen vor zwanzig Jahren ins Modehaus Ihrer Eltern ein, das 1920 gegründet wurde. Entdecken Sie Ähnlichkeiten zum Geschäft von Frau Bösch?

Ahlert: Unser Haus steht bei Münster in der Kleinstadt Greven mit 36 000 Einwohnern. Viele Stammkunden kommen seit Jahren, viele kauften schon als Kind bei uns und kommen nun mit ihren Kindern. Wir begleiten die Menschen durchs Leben und kennen sie gut. Die Verkäufer in der Herrenabteilung begrüßen manchmal sogar Kunden, die ihre im Vorjahr gekaufte Kleidung mitbringen und fragen: »Was kann ich noch tragen? Was passt wozu?« Bei uns ergänzen sie dann ihre Outfits oder statten sich für Reisen oder besondere Anlässe aus. Wir treffen gemeinsam eine Vorauswahl, probieren aus, der Kunde trinkt einen Kaffee und entscheidet sich.

“Der große Vorteil unseres Ansatzes: Er ist skalierbar”
Julia Bösch CEO Outfittery

Interessant.

Bösch: Was Sie beschreiben, Herr Ahlert, ist im stationären Handel selten geworden. Wir haben Outfittery auch gegründet, weil wir sehen, dass der Service in Geschäften zurückgefahren wird – und online fast gar nicht existiert.

Können Sie dieselbe Beratung bieten?

Bösch: In der Qualität der Beratung stehen wir in nichts nach. Der große Vorteil unseres Ansatzes: Er ist skalierbar. Mittlerweile bedienen wir eine Million Männer in neun europäischen Märkten und haben eine Technologieplattform, die mit jedem neuen Kunden besser wird.

Herr Ahlert, Sie führen bislang keinen Onlineshop. Weshalb?

Ahlert: Für online fehlt uns die Tiefe im Sortiment. Wenn wir etwas starten, dann eher auf einer Plattform wie Zalando, wo wir auch als stationärer Händler verkaufen könnten.

Aber ist es nicht sehr schwierig für Sie, sich zu differenzieren, wenn andere dieselben Jeans oder Hemden anbieten?

Ahlert: Ja, aber wir gehen dabei auch kein Risiko ein. Wir haben sowohl Ware im Geschäft als auch die Verkäufer, die den Versand der Bestellungen aus unserem Haus nebenbei organisieren können.

»Mit den Daten und der Unterstützung von 20 Algorithmen steuern wir die Customer Journey: Es gibt zum Beispiel auch einen Algorithmus, der entscheidet, welchen Stylisten wir welchem Kunden zuordnen«, sagt Julia Bösch (im linken Bild).

Hätten Sie sich im Lockdown eine Onlineverkaufsmöglichkeit gewünscht?

Ahlert: Wir haben »Online zu Fuß« gemacht, wie ich es nenne – und waren damit schneller als jeder Onlinehändler.

»Online zu Fuß« heißt?

Ahlert: Wer etwas benötigte, rief an oder schrieb eine Mail, und unsere Azubis lieferten nach Hause. Teils führten wir unsere Kunden per Handykamera durch das Sortiment. Wir packten Auswahlsendungen und brachten sie zu den Kunden. Das funktionierte sehr gut, zum Beispiel im Kinderbereich: Im April hatten wir ja Bombenwetter, und viele Kinder waren aus den Sommersachen 2019 rausgewachsen.

Also sind Sie relativ gut durch diese Phase gekommen?

Ahlert: Was heißt gut? Das hatte nicht annähernd etwas mit den Umsätzen zu tun, die wir vorher gemacht haben. Aber wir sind im Gespräch geblieben.

Wie ging es Outfittery in der Corona-Zeit, Frau Bösch?

Bösch: In der ersten Lockdown-Phase ging die Nachfrage nach Mode insgesamt zurück, auch online. In der zweiten Phase zog die Nachfrage an und veränderte sich: Jogginghosen wurden gefragt, außerdem Basecaps.

Weshalb?

Bösch: Wer nicht zum Friseur gehen kann, versteckt darunter seine Haare (lacht). Wir gehörten auch zu den Ersten, die modische Stoffmasken anboten oder Retouren von DHL zu Hause abholen ließen – so mussten Kunden nicht das Haus verlassen.

“Es muss mein Ziel sein, die Innenstadt attraktiv zu halten”
Christian Ahlert Inhaber Modehaus Ahlert

Wie verändert die Krise den Markt?

Bösch: Corona beschleunigt den Schwenk zum Onlinegeschäft massiv. Innerhalb weniger Monate sehen wir eine Marktbewegung Richtung online, die für die nächsten zehn Jahre vorhergesehen war. Selbst Kunden, die vorher noch nie online gekauft haben, stellen nun fest, wie einfach und bequem das ist.

Ahlert: Frau Bösch, mich würde interessieren, wie es sich mit den Retouren bei Ihnen verhält …

Bösch: Die Retouren gehören zu unserem Geschäftsmodell: Wir schicken dem Kunden eine Auswahl nach Hause und rechnen damit, dass etwas zurückkommt. Wichtig ist, dass wir für 90 Prozent der Artikel, die zurückkommen, einen sehr konkreten Retourengrund erfahren.

Das heißt?

Bösch: Wir wissen dann: Okay, dieses Rot war zu krass, diese Hose war an den Oberschenkeln zu eng. Das hilft uns, besser zu werden.

Ahlert: Können Sie sagen, wie hoch Ihre Retourenquote ist?

Bösch: Das publizieren wir so nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass die Kunden pro Bestellung Mode im Wert von um die 170 Euro behalten. Das sind etwa drei bis vier Teile.

Wie sieht bei Ihnen der durchschnittliche Warenkorb eines männlichen Kunden aus, Herr Ahlert?

Ahlert: Wir liegen im Schnitt bei zwei bis drei Teilen.

Vertrauen Sie darauf, dass die Innenstadt ihren Magnetismus auch nach der Krise behält?

Ahlert: Ich glaube schon. Seit der Corona-Zeit besinnen sich die Leute doch wieder sehr auf das Lokale: Sie unterstützen Innenstadtinitiativen, Sportvereine, kulturelle Einrichtungen. Die Kunden erkennen: Wenn ich meine Stadt erhalten möchte, dann muss ich halt auch zu Hause konsumieren und das Geld in der Stadt lassen.

Frau Bösch, könnte Outfittery zusätzlich als stationäres Geschäft Sinn ergeben?

Bösch: Ich glaube, Kunden kaufen bei einem Partner, und ob der Partner online verkauft oder stationär, ist nicht der primäre Punkt. Primär sind der Kundenkontakt und die Kundenbindung.

Wie binden Sie Kunden?

Bösch: Bei einer Erstbestellung verbringt der Kunde ungefähr zehn Minuten damit, unseren Onlinefragebogen auszufüllen. Dann entscheidet er, ob er »Outfittery on Demand« nutzt und bestellt, sobald er etwas braucht – oder ob er »Outfittery Autopilot« verwendet und in bestimmten Abständen ein Paket mit Outfits von uns bekommt. Fast die Hälfte der Kunden nutzt den Autopiloten. In einem Paket konzentrieren wir uns auf Business Wear, das nächste Mal gehen wir in die Freizeitrichtung und können so die Garderobe des Kunden ausbauen.

Arbeiten Sie dabei mit künstlicher Intelligenz?

Bösch: Ja, wir haben mittlerweile fünf Millionen Outfits in einer Datenbank hinterlegt. Jeden neuen Kunden können wir mit ähnlichen Kunden und deren Looks abgleichen: Wenn wir ein blaues Poloshirt verkaufen, sehen wir alle Styles, die bisher um dieses Shirt entstanden sind.

Die Beratung ist also sehr datengesteuert.

Bösch: Mit den Daten und der Unterstützung von 20 Algorithmen steuern wir die Customer Journey: Es gibt zum Beispiel auch einen Algorithmus, der entscheidet, welchen Stylisten wir welchem Kunden zuordnen. Bestimmte Stylisten erzeugen bei bestimmten Kunden die höchste Zufriedenheit. Entsprechend ordnet unser »Dating-Algorithmus« Stylist zu Kunde.

Kann also der Algorithmus das perfekte Outfit vorschlagen?

Bösch: Algorithmen können nur in die Vergangenheit schauen. Der Stylist versteht den Menschen und blickt in die Zukunft. Er ist somit der Lehrer des Algorithmus und entwickelt ihn weiter.

Ahlert: Das erinnert mich an unsere Kundenkartei, in der alle Daten und Einkäufe gespeichert sind – wenn es vom Kunden erlaubt und gewünscht ist. Wir haben aber keine Programmierung dahinter, die Vorschläge entwirft. Das machen wir mit unseren Verkäufern auf der Fläche individuell. Auch wir haben für die verschiedenen Kundentypen die passenden Berater, vom Konservativen bis zum Trendbewussten, sodass wir auch jeden Modegrad mitgehen können.

Was denken Sie, wenn Sie von der Outfittery-Technik hören: Sehen Sie Einsatzmöglichkeiten in Ihrem Geschäft?

Ahlert: Allerdings. Ich könnte meine Daten an Outfittery geben, und Frau Bösch könnte dem Kunden dann ein Outfit anbieten, das er lokal in Greven einkaufen kann. Dann würde ich für jeden Verkauf eine Provision überweisen.

Bösch: Und wenn dann wiederum die Daten, die wir sammeln, Ihren Verkäufern zur Kundenberatung zur Verfügung stehen würden… das könnte extrem spannend sein.

Herr Ahlert, es gibt viele Entwicklungswege für Ihr Haus: Sie können den Verkauf digitalisieren, Events anbieten, können mit anderen Händlern kooperieren. Welcher Weg liegt Ihnen am nächsten?

Ahlert: Ich glaube, es muss mein Ziel sein, die Innenstadt attraktiv zu halten. Große Handelshäuser sollten wieder zum Mittelpunkt werden, in dem sich alle treffen. Deshalb denke ich darüber nach, saisonale Produkte aufzunehmen. Gerade boomen E-Bikes. Warum soll ich nicht eine Jackenabteilung im Sommer an einen E-Bike-Spezialisten als Pop-up-Fläche vergeben?

Ein interessanter Ansatz, der schon an einigen Orten versucht wird.

Ahlert: So können Häuser wie meines wieder zu einem Marktplatz innerhalb der Stadt werden.

Frau Bösch, wo sehen Sie Outfittery in den kommenden Jahren?

Bösch: Wir machen jetzt um die 80 Millionen Euro Umsatz. In den USA gibt es Unternehmen in unserem Bereich, die schon einen Umsatz in Milliardenhöhe erzielen. Wir gehen davon aus, dass dasselbe Wachstum und dieselbe Kundenbewegung auch in Europa stattfinden wird. Entsprechend haben wir uns 2019 mit unserem vormals größten Wettbewerber zusammengetan, um der klare europäische Marktführer zu sein.

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